Die Lakritzenstange

Sylvester-Humoreske von T. Szafranski (Eberswalde).
in: „ Mährisches Tagblatt” vom 31.12.1902
in: „Badische Presse” vom 1.1.1903


„Es ist ein Leiden, lieber Heilstein,” sagte der Baron von Scherbarth kopfschüttelnd, indem er ans Fenster trat und in den verschneiten Park hinausschaute.

Die Morgensonne flimmerte und glitzerte jedoch so blendend auf den von zusammenhängenden Schneemassen überlasteten Zweigen, daß er gleich wieder umkehrte und sich dem Dr. phil. Josef von Heilstein, dem Sohne seines verstorbenen Freundes und einstigen Gutsnachbarn, gegenübersetzte.

„Es ist ein Leiden, und ich komme immer mehr und mehr dahinter, daß Ihr Herr Vater und ich damals — vor sechszehn Jahren — ein recht gewagtes Experiment vereinbart haben.”

Josef von Heilstein schlug die langen Beine übereinander, was sich fast so ausnahm, als wenn er einen Knoten darin machen wollte — und führte die sorgfältig gefeilten Fingernägel seiner Rechten dicht an die kurzsichtigen, mit einer scharfen Brille bewaffneten Augen.

„Das habe ich auch gedacht,” erwiderte er. „Aber seit ich Baroneß Lu kennen gelernt habe, bin ich im Gegentheil der Meinung, daß mein alter Herr da auf einen sehr gescheiten Einfall gekommen ist — und nicht bloß hinsichtlich der wünschenswerthen Vereinigung von Ober- und Nieder-Waldhausen. Ich liebe Fräulein Lu.”

„Das freut mich von Herzen, obwohl es mir nebelhaft ist, wie Sie das bei der Behandlung fertig gebracht haben. Das Mädel respektirt ja nicht einmal den Hauslehrer in Ihnen. Und seit noch die kleine Oesterreicherin angeschwirrt ist, wird mit vereinten Kräften Allotria getrieben. Merken Sie denn das gar nicht?”

„Oh ja —”

„Na und?”

„Das macht nichts.”

„Ja, aber Liebster, Bester!” rief der Baron zwischen Ernst und Lachen. „Damit kommen wir doch nicht zum Ziel! Ein Mädel kann sich unmöglich in einen Mann verlieben, mit dem es solche Kisten aufstellt!”

„Allerdings. Aber jedes Mädel wird damit aufhören, sobald es sich verliebt hat.”

Herr von Scherbarth stutzte und saß einen Augenblick mit offenem Munde.

„Sie haben ein gesundes Selbstvertrauen,” sagte er dann. „Schade, daß Sie das nicht früher bethätigt haben, Heilstein. Jetzt habe ich nur noch sehr geringe Zuversicht. Vergessen Sie nicht, daß nach dem Codicill Ihres Vaters der Sylvesterabend 1902 der letzte Termin ist. Also morgen. Was soll sich denn bis dahin noch ändern?”

„Alles.”

Der Baron machte eine halb ungeduldige, halb resignirte Bewegung; und erhob sich zu einer nachdenklichen Zimmerpromenade.

„Die Geschichte ist verfahren, lieber Heilstein. Und das schmerzt mich. Vielleicht habe ich einige Schuld, da ich die Sache in den ersten Jahren gar nicht und nachher — bis in die letzte Zeit hinein — zu wenig ernst genommen habe. Wer konnte denn auch annehmen, daß soviel Klugheit und vorschauende Ueberlegung in einer Bestimmung steckt, die sich auf den ersten Blick so romanhaft und verdreht ausnahm. Ich bin damals auf die Abmachung nur eingegangen, weil ihr Alter mit einem friesischen Eigensinn daran festhielt und ich ihn auf seinem Schmerzenslager nicht kränken wollte. Er hat damals schon gewußt, was ich erst nach vielen bösen Erfahrungen eingesehen habe, daß die beiden, in ihrer Bodenart sich ergänzenden Güter nur in einer Hand zu halten sind. Das würde natürlich Alles ganz außer Betracht kommen, wenn ich Sie nicht kennen und schätzen gelernt und das absolute Vertrauen zu Ihnen hätte, daß das wilde, zerfahrene kleine Frauenzimmer in Ihnen einen Mann kriegte, wie er nach Charakter und Gesinnung nicht besser zu wünschen ist. Wenn Sie nur etwas fester aufgetreten wären! Und ein bißchen mehr von sich hergemacht hätten! Das wäre Ihnen doch ein Leichtes gewesen!”

„Hm — und meine Hauslehrermaske?”

„Sehen Sie, Heilstein,” rief der Baron, indem er lebhaft gesticulirend stehen blieb, „das ist ja eben die große Dummheit. die wir gemacht haben! Wenn ein Mädel sich in ihren Schulmeister verlieben soll, dann muß sie schon bedeutend lyrischer sein als meine Lu. Und dann — nehmen Sie mir's nicht übel! — der lange schwarze Quadrillenschwenker auf Ihrer ohnehin erklecklich lang gerathenen Figur; dazu der feierlich hohe Cylinder, die schwarzen Begräbnißhandschuhe, die Sie tragen — — — wissen Sie denn, Menschenskind, wie die infamen Racker Sie nennen?”

„Die Lakritzenstange.”

„Na ja — und das sagen Sie so, als wenn es eine der höchsten Annehmlichkeiten des Lebens wäre, von einem Mädchen, das man liebt, Lakritzenstange genannt zu werden!?”

„Ist es auch. Gefällt mir ganz gut. Succus liquiritiae ist eine schmackhafte Victualie, auf die Fräulein Lu noch anbeißen wird. Ich habe meine Gründe zu der Annahme, daß sie nicht gar so unfreundlich von mir denkt, wie sie das in ihrer temperamentvollen Art bekundet. Eben in ihrer wüthenden Verfolgungssucht liegt etwas, das mir Freude und Muth macht. Ganz gleichgiltige Menschen chikanirt man nicht in dieser Weise. Ich hätte längst mein Bündel geschnürt, wenn gerade das nicht gewesen wäre. Jedenfalls wollen wir nun sehen, ob meine Calculation die richtige war und dann der Komödie ihre ernste Pointe gebe.”

— — —

Baroneß Lu und ihre Freundin Cilly von Mederer saßen am Fenster des Bibliothekzimmers und äußerten ihren heftigen Unwillen darüber, daß sie nun, anstatt Schlitten zu fahren bei dem herrlichen Wetter oder Schlittschuh zu laufen, eine Literaturstunde haben sollten.

Als sie noch hin und her debatirten, wie diesem Verhängniß wohl zu entrinnen sei, betrat Herr von Heilstein das Zimmer.

Die jungen Damen hatten das deutlich gehört — aber keine sah sich um. Sie schauten angelegentlich zum Fenster hinaus und erörterten ungenirt, wie unvortheilhaft sich die Klopstock'sche Periode von einer gesunden Bewegung im Freien unterscheide.

Dann eine kleine Pause, während deren die Damen erstaunte Augen machten, daß die Lakritzenstange sich nicht äußerte. Es mußte also stärker beschworen werden.

Baroneß Lu zupfte an einem Goldlacktopf auf dem Fensterbrett.

„Du Cilly —”

„Hm — —?”

„Weißt Du schon, durch welchen einfachen chemischen Prozeß man Gold gewinnen kann?”

„Na —?”

„Man nimmt Goldlack und streut ihn auf den Fußboden. Dann verbindet sich der Lack mit den Ritzen des Fußbodens zu Lakritzen — und das Gold wird frei.”

„Sehr richtig —” unterbrach Herr von Heilstein das in einem unterdrückten Glucksen sich äußernde Entzücken des Fräulein von Mederer; „und da nun einmal diese älteren alchymistischen Wahrheiten angeschnitten sind, so gestatten Sie mir vielleicht auch, Ihnen zu sagen, wie auf einem ganz ähnlichen Wege Silber zu gewinnen ist. Ich setze den Fall, Sie wären Silberpappeln. Wenn nun eine autoritative Person Ruhe gebietet, so müßte das Pappeln aufhören — und das Silber würde frei. Ihre duch diese chemische Bindung entstandene Gesprächspause könnte ich dann ausnutzen zu der Mittheilung, daß ich auf die heutige Literaturstunde verzichte. Abgesehen davon, daß die Klopstockperiode hier ohnehin längst versäumt ist, lohnt es sich kaum, Sie heute noch mit einem Unterricht zu behelligen, der morgen endgiltig abschließt. Ich habe den mir in der Residenz angebotenen Posten angenommen und werde morgen abreisen, um ihn am 1. Januar anzutreten. Es wird mir ein Vergnügen sein, meine Damen, mich alsbald von Ihnen zu verabschieden.”

Herr von Heilstein hatte längst das Zimmer verlassen, als sich die beiden jungen Mädchen immer noch sprachlos anstarrten. Dann fand zunächst Fräulein von Mederer sich aus ihrer Fassungslosigkeit heraus.

„Jessas —” hauchte sie mit großen. fast erschrockenen Augen, „hat a Mensch schon sowas derlebt mit der Lakritzenstang'n? So a Frechheit! Was der uns alles g'sagt hat! Pappeln san mer — —”

„Nach der Residenz will er gehen —” ergänzte Baroneß Lu wie geistesabwesend.

„Stad sein soll'n mer — daß er reden kann!”

„Morgen will er abreisen —”

„Mit'n Klopstock hat er gedroht, — der Krampus!”

„Es wird wohl die Gouverneursstelle beim Prinzen Ernst sein —”

„Und a Vergnügen wird's ihm sein, sich von uns zu verabschieden!”

Pause.

„Du — Cilli — —”

„Ha, bin i fuchtig! Was soll's denn?”

„Ich wette einen Knopf gegen meine Brillantbroche, daß das die Stelle bei dem Prinzen Ernst ist —”

„Meinetwegen beim Teufel oder seiner Großmutter. Wenn i jetzt bloß dem Menschen irgend was anthun könnt', woran er stickt!”

„Und bei Hofe werden sie ihn nicht uzen, weil das nicht fein ist — und dann wird er sich da moppelwohl fühlen — und von uns wird er sich denken, wir könnten ihm den Buckel hinaufsteigen oder sowas —”

„Na, dös soll er sich blos unterstehen! Schau! Da —! Eben ist er aus dem Haus getreten! Rasch das Fenster auf! Heimzahlen wollen mer's ihm!”

Cilli von Mederer hatte das Fenster aufgerissen und von dem Fensterblech soviel Schnee zusammengerafft, als sie mit den kleinen Händen nur fassen konnte. Sie hatte den Schneeball eben in der mädchenhaft linkischen Wurfmanier erhoben, als ihr die Baroneß in den Arm fiel. Der lockere Ball entglitt der Oesterreicherin und zerschellte auf ihrem eigenen Köpfchen.

„Brr —!” schrie sie auf; „bist nicht gescheit? Jetzt hab' ich den ganzen Matsch am Hals!”

„Wie kann man denn auch sowas machen, Cilli!”

Fräulein von Mederer hatte sich gebückt, um den Schnee aus dem Haar zu schütteln. Jetzt richtete sie sich auf und sah ihre Freundin mit maßlosem Befremden an.

„Oho! Mit einem Mal? Und grad heut? Wo die Lakritzenstang'n so frech geworden ist? Zwei Cylinder hast ihm schon eingeworfen in diesem Winter — und wo ich auch einmal das Vergnügen haben will, da — — —”

„Das ist was Anderes —”

„Was ist denn dös Anderes? Schnee ist Schnee!”

„Ich meine — insofern, als wir das jetzt nicht mehr thun dürfen. Sieh mal — wenn er nun in die Residenz kommt und erzählt, daß wir ihm Sand in das Tintenfaß geschüttet, die Pelzärmel zugenäht und ihn mit Schneeballen geworfen haben, dann trau ich mich gar nicht zu Hof — und ich soll doch schon im nächsten Jahre dort vorgestellt werden. Weißt Du — ich freue mich nun eigentlich drauf. Da wird er doch merken, daß man was bedeutet! Worüber ich mich am meisten geärgert habe, ist seine stille, überlegene Art, mit der er alle unsere Dummheiten von sich abgeschüttelt hat.”

„Still! Schön still — wo er uns eben angeschnauzt hat wie junge Hund'!”

„Das hat mir imponirt; ich kann mir nicht helfen.”

„Geh', Du bist fad. Wenn's nicht g'rad die Lakritzstang'n, wär', dann möcht' ich fast ganz was Komisches glauben — verstehst?”

„Was Du glaubst!” rief Lu von Scherbarth unmotivirt laut und mit einem brennrothen Köpfchen. „Du wolltest Dich doch bloß wieder interessant machen bei ihm!”

„Bei der Wurz'n?! Womit? Mit dem Schneeball'n?”

„Jawohl! Ich habe das schon längst beobachtet. Alles, was Du ausheckst, das läuft darauf hinaus, seine Aufmerksamkeit auf Dich zu lenken. Und wenn Dir das nicht gelungen ist, so ist das nicht Deine Schuld. Deine Schuld ist es aber, daß er nun fort geht. Deine allein!”

„Was! Iiiiich —? Ich soll Schuld sein? Wer hat denn gestern seine ganze Literaturgeschichte zugebackt mit Fischleim? Und wer hat heut die Hetz gemacht mit dem Goldlack? — Iiiiich —?”

„Ja! Du! Indirect wenigstens. Anstatt mir abzureden, wie sich das für eine vernünftige und wahre Freundin gehört, hast Du immer so schrecklich gelacht und mich dadurch aufgemuntert. Du bist beinahe sechs Wochen älter und müßtest verständiger sein!”

„Also bitte — entweder bist Du verrückt oder verliebt!

„Cilli!!” rief die Baroneß todeserschrocken und eilte auf die Freundin zu, als wenn sie sie erwürgen oder ihr zum mindesten den Mund zuhalten wollte.

„Ach was! Laß mich aus! Ich pack' noch heut meine sieben Zwetsachken und reis' heim! Das ist mir zu fad! Servus!”

Raus war sie — und Luvon Scherbarth hielt sie nicht auf. Die Baroneß eilte zum Fenster und warf den Goldlacktopf auf den Fußboden, daß es nur so krachte. Dann legte sie den Kopf auf beide Arme und schluchzte herzbrechend — und sie konnte damit um so weniger ein Ende finden, als sie gar nicht wußte, weshalb sie damit angefangen hatte.

— — —

„Papa — —”

„Was soll's?” fragte Herr von Scherbarth ziemlich kurz von seiner Zeitung auf.

„Hat sich der — der Herr von Heilstein schon von Dir verabschiedet?”

„Verabschiedet — Ach so. Ja. Natürlich. Das heißt — verabschiedet eigentlich noch nicht. Er zieht sich gerade um.”

„Da macht er sich wohl ganz besonders fein? Viel feiner als bei uns natürlich. Da wird er wohl nett Süßholz raspeln bei den Herzoginnen, Prinzessinnen und Fürstinnen — meinst Du nicht auch, Papa?&rdquo,

„Kann schon sein. Als Lakritzenstange wird ihm das ja nicht schwer fallen. Es ist Dir doch bekannt, daß Lakritzen weitern nichts als Süßholzsaft ist?”

Nein. Ich finde es übrigens nicht recht, daß Du Herrn von Heilstein immer Lakritzenstange nennst — — er ist doch immerhin mein Lehrer gewesen — und er hat sich so schrecklich Mühe gegeben — und — — —”

Der Baron versank tiefer hinter seiner Zeitung. Bei dem seltsam vibrirenden Tone, in dem die Kleine all das hervorstieß, hielt er es nicht für nöthig, sich gegen den ungerechtfertigten Vorwurf zu vertheidigen.

Lu von Scherbarth sagte eine Weile nichts, sondern sah unverwandt vor sich hin und zerrte an ihrem Taschentuche. Dann klang es ziemlich gefaßt:

„Die Cilli will weggehen und nun der auch. Könntest Du ihm nicht sagen, daß er wenigstens noch heute zum Sylvesterabend bleibt?”

„Wird nichts nützen.”

„Aber so versuche es doch! Wir haben so schrecklich viel Pfannkuchen — wer soll denn die alle essen! Und die große Punschbowle kriegen wir auch nicht allein aus . . . . Versuche es doch, Papachen. Thu mir die Liebe! Ich kann's doch nicht, nachdem ich mich gegen Herrn von Heilstein immer so niederträchtig benommen habe. Du kannst ihm sogar sagen — ich würde es ganz gewiß nicht wieder thun — und wenn er die dumme Stelle bei Hofe aufgeben wollte, dann würdest Du ihm fünfzig Thaler zulegen und ich würde immer sehr freundlich und folgsam sein und — —”

„Topp!” rief Josef von Heilstein, der eben in tadellosem Smoking das Zimmer betreten hatte und von der Baroneß zunächst — und diesmal wirklich — nicht bemerkt worden war. „Für fünfzig Thaler mehr, eine baumwollene Weste zu Weihnachten und bessere Behandlung bleibe ich. Pardon Baroneß, noch nicht hochklettern — ich habe noch eine Bedingung! Ich muß eine umfassendere Erziehungsvollmacht haben —”

„Aber ich habe doch gesagt, daß ich gut sein werde!” schmollte die Kleine unter Thränen. „Wollen Sie mich denn prügeln?”

„Das nicht, aber — lieb haben — Du herziger kleiner Racker von Wildfang! Du — —”

Weiter kam er nicht, denn die Baroneß war doch an ihm hochgeklettert und schloß ihm den Mund mit ihren frischen Lippen.

— — —

Nach dem großen Wünschen um zwölf Uhr, als das Glöckchen im Dorf unten das neue Jahr eingeläutet, zerrte Lu ihre Freundin Cilli bei Seite und wies auf ihren Mund.

„Du — ich habe der Lakritzstange vorhin den achtundzwanzigsten Kuß gegeben — — bin ich schwarz hier herum? Nee? Na sieh mal — ich hab mir das früher vorgestellt, und immer habe ich gedacht, er müßte abfärben. Aber süß ist er! Sag' mal selbst, ist er nicht süß?”

„Wie sich das gehört für eine Lakri —”

„Nein! Das darfst Du nicht sagen! Das ist eine Unart, die Du Dir von Papa angewöhnt hast!”

„Also gut. Ich sag' nur noch: Verliebt und verrückt!” rief Cilli von Mederer und schloß die Freundin lachend in die Arme.

— — —

Unterschiede der beiden Fassungen:

Badische Presse:JanuarHerr von HeilsteinStillHadern
Mährisches Tagblatt:JännerHerr v. HeilsteinStadZwetschken

— — —